Zur Zeit scheint die Situation in unserem Land besonders verfahren: Über jedem Thema scheiden sich die Geister und die Gemeinschaft zersplittert in unzählige Gruppen, die einander verurteilen, verachten und sich nicht mehr oder kaum noch verstehen. Wäre Deutschland eine Familie, würde ich ihr empfehlen, mal eine systemische Familientherapie aufzusuchen. Um besser mit den verschiedenen zersplitterten Gruppen umgehen und kommunizieren zu können, würde ich gern mal in der Rolle des systemischen Therapeuten auf das Geschehen schauen. Das hilft mir, mich nicht so sehr von der aufgeheizten Stimmung anstecken zu lassen und konstruktive Möglichkeiten des Umgangs in den Blick zu nehmen. Systemische Therapie, als besonders effektive und wirksame Art zu therapieren, hat angenehmerweise einige Besonderheiten, die auch im Fall der „Landesfamilientherapie“ ihre Vorteile ausspielen könnten:

Immer nur ein Ausschnitt

Zum Einen ist ihr bewusst, dass sie niemals „die Ursachen“ finden wird oder gar „alle relevanten Fakten oder Beteiligten“ kennen wird. Das bedeutet im Falle unserer Gesellschaft, dass ich mir gut eine Vertreterin der jeweiligen Gruppe vorstellen kann, die mit mir im Therapieraum sitzt und ihre Sicht der Dinge – ihre Realitätskonstruktion – darlegt.

Neutral

Ein weiterer Grundsatz der Systemik ist die Neutralität – unter anderem auch die Veränderungsneutralität. Ich muss, solange ich die Rolle des Therapeuten einnehme, nicht irgendein bestimmtes Ziel erreichen, das mir sinnvoll erscheint, sondern kann mich ganz auf die Ziele der Klienten einlassen, sie gemeinsam mit ihnen erforschen und imaginieren.

Kein Schuldiger

Zum Anderen sucht systemische Therapie keinen Schuldigen und schaut nicht so sehr auf Fehler oder Defizite, sondern auf Ressourcen, Stärken und „gute Gründe“. Ich wäre also frei, während ich mir die verschiedenen „Familienmitglieder“ unserer Gesellschaft anschaue, nach ihren guten und wichtigen Gründen für ihre Haltung und ihr Verhalten zu schauen, die die systemische Therapie als grundlegende Motivation hinter allem Tun vermutet.

Wechselwirkungen

Dann geht es natürlich auch um die Wechselwirkungen im System Gesellschaft – wieder natürlich nicht vollständig, sondern so, wie es die einzelnen Familienmitglieder wahrnehmen: „Immer, wenn die das tut, reagiert er so!“. Lange Zeit waren die Wechselwirkungen offenbar gut auszuhalten, aber jetzt nicht mehr – sonst würde das System nicht in meine Therapiestunde kommen 😉 Die Familienmitglieder wollen, dass sich etwas verändert – so wie es ist, soll es auf keinen Fall bleiben. Gab es Ereignisse und Veränderungen, die die jetzige Unzufriedenheit ausgelöst haben? Natürlich muss das System durch eine Phase der Destabilisierung gehen, damit es sich selbst neu einschwingt – darauf sollte ich die Familienmitglieder und mich vorbereiten…

Welche Antworten würden mir die Klienten wohl auf zirkuläre Fragen geben: „Was glaubt Deine Schwester, warum Du Dich so verhältst?“? Wie könnte ich ihnen helfen, ihre guten Gründe und Ziele gegenseitig besser zu verstehen? Wie sieht der „Blick in den Abgrund“ aus? Räumliche Trennung? Fliegen die Fetzen? Gruppenkuscheln?

Als guter systemischer Therapeut will ich hier natürlich keine Antworten auf diese Fragen geben, sondern Möglichkeiten eröffnen, die Problemtrance in eine Lösungstrance überführen, Freiheitsgrade erhöhen. Vielleicht schaffe ich es ja, mal ab und zu ein Gespräch mit einem dieser Familienmitglieder zu führen, das ein bisschen was von diesen Möglichkeiten spüren lässt.

Rollenwechsel

Und natürlich bin ich nicht immer in dieser Rolle: Manchmal bin ich mittendrin mit all meinen Wünschen und Zielen – und das ist völlig in Ordnung so. Aber manchmal eine andere Perspektive einzunehmen, ist sehr verlockend…