Ist jemand ein Lügner, der manchmal lügt? Was ist mit all den Situationen, in denen er die Wahrheit sagt? Was macht es für einen Unterschied, ob Du Dich auf das eine oder das andere konzentrierst? Was macht es mit Dir? Was macht es mit dem anderen? Was macht es mit der Gesellschaft?

Deine Aufmerksamkeit bestimmt, was Du erlebst

Nehmen wir an, ich würde zu Dir sagen: „Spür doch mal, wie sich Dein rechter Fuß gerade anfühlt. Wie fühlt sich die Socke daran an, wie der Schuh oder der Untergrund auf dem Dein Fuß steht?“ [Ausprobieren!]

Vermutlich hast Du gerade etwas gespürt, das Du vorher nicht gespürt hast. Warum hast Du es vorher nicht gespürt? Vielleicht, weil Deine Aufmerksamkeit woanders war. Und vermutlich hast Du, während Du Dich auf die Gefühle in Deinem Fuß konzentriert hast, das Jucken in Deinem linken Arm nicht mehr gespürt. Ach Mist – hätte ich das besser mal nicht erwähnt! Jetzt spürst Du es wieder…

Diese Aufmerksamkeitsfokussierung nennt man auch Hypnose. Du tust es ständig selbst und Du kannst das so weit treiben, dass Du ohne Narkose am Kiefer operiert werden kannst, ohne Schmerz zu spüren.

Aber kommen wir wieder zu unserem Thema: Stell Dir nun vor, ein Mensch in Deiner Umgebung lügt manchmal. Aber er sagt auch ganz oft die Wahrheit. Was glaubst Du macht es für einen Unterschied in Deinem Erleben, wenn Du Deine Aufmerksamkeit auf das eine oder das andere konzentrierst? Wohin hypnotisierst Du Dich?

Kann ich mich nicht einfach auf beides konzentrieren?

Eine interessante Frage! Kannst Du es? Oder wird eines von beiden Deine Aufmerksamkeit stärker prägen?

In den letzten Jahrzehnten gab es eine Menge Forschung zu dem Thema. Kurz zusammenfassen könnte die Ergebnisse so: „Nicht die Fakten bestimmen die Geschichte, die Du erzählst, sondern die Geschichte, die Du erzählst / glaubst bestimmt, welche Fakten Du wahr-nimmst.“ In unserem Beispiel könnte die ganz kurze Geschichte, die Du über den anderen glaubst oder erzählst, sein: „Er ist ein Lügner.“ Und das würde bedeuten, dass Du automatisch alles das wahr-nimmst, was diesen Deinen Glauben bestätigt. Dafür sorgt Dein Unterbewusstsein.

Eigentlich wissen wir das schon lange: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nie.“ heißt es im Volksmund. Eigentlich nicht sehr clever, oder? Wenn jemand in 10% von allem was er sagt lügt, liegt man mit dieser Volksweisheit in 90% der Fälle daneben.

Was macht das mit dem anderen?

Das ist der spannende Teil. Bisher ist das ja ein nettes Gedankenexperiment, das höchstens Einfluss auf Deine Gefühle hat.

Wissenschaftlich gesprochen haben wir schon lange herausgefunden, dass wir nichts beobachten können, ohne es damit nicht auch schon zu verändern. Wir nehmen Einfluss auf den anderen, schon in dem Augenblick, wo wir sein Verhalten beobachten. Noch mehr, wenn wir es beurteilen. Und vor allem natürlich, wenn wir unsere „Meinung“ dazu äußern oder posten. Man könnte auch sagen: Wir manipulieren in jedem Fall.

Nun könnte es ja sein, dass wir uns wünschen, der andere würde weniger oder gar nicht lügen. Da wir sowieso Einfluss auf ihn nehmen, könnten wir ja fragen: Wie kann ich einen guten Einfluss nehmen?

Möglichkeit 1: Ich sage ihm, dass er lügt. Oder ich poste das (wenn es zum Beispiel um einen Politiker oder anderen Akteur der Gesellschaft geht). Damit lenke ich seine Aufmerksamkeit (und eventuell die Aufmerksamkeit vieler anderer) auf dieses Defizit. Ich erzähle die Geschichte: „Du bist ein Lügner“. Das wird Einfluss auf sein Erleben haben. Und auf die Geschichte, die er selbst über sich glaubt. Vielleicht wird er sich bemühen, anders zu werden. Aber seine Aufmerksamkeit wird immer auf sein Versagen, seine Defizite gerichtet sein. Und er wird vorrangig sein Scheitern wahr-nehmen. Das wird ihn entmutigen und in der Überzeugung bestätigen, dass die Geschichte stimmt, die man über ihn erzählt. Und letzten Endes wird sein Unterbewusstsein darauf hinarbeiten, dass diese Geschichte immer und immer wieder wahr wird.

Möglichkeit 2: Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Erfolge – auf alle die Situationen, in denen er die Wahrheit sagt. Ich erzähle davon. Ich erzähle die Geschichte seiner Wahrheits-Erfolge. Damit lenke ich seine Aufmerksamkeit auf seine Fähigkeiten – seine Ressourcen würde man therapeutisch sagen. Auch das wird Einfluss auf sein Erleben haben und auf die Geschichte, die er von sich glaubt: „Ich bin jemand, der schon ganz oft die Wahrheit sagt!“. Auch das hat selbst-verstärkenden Effekt. Auch das wirkt auf die Automatik in seinem Unterbewusstsein. Aber nun in eine ganz andere Richtung.

Und was ist, wenn er gar nicht will?

Nun ja – das ist letztendlich natürlich seine Sache. Allerdings hast Du Deinen Einfluss – den Du so oder so hast – bestmöglich genutzt. Und das Erstaunliche ist: Unsere Worte und Geschichten haben Macht. Immer. Und wir üben diese Macht aus, sobald wir den Mund aufmachen oder etwas schreiben. Wenn wir das nun wissen, können wir damit vielleicht verantwortungsbewusster umgehen. Und wahrscheinlich tust Du das schon ganz oft, oder? 😉

Und was hat das mit der Gesellschaft zu tun?

In den USA gibt es ja auch Ureinwohner. In der Mitte des letzten Jahrhunderts war die vorherrschende Geschichte, die sie über sich erzählten und glaubten: „Wir verlieren nach und nach unsere Identität. Wir werden assimiliert, bis von uns nichts mehr übrig ist. Alles was uns ausmachte, geht den Bach runter.“. Und tatsächlich: Alles was passierte, wurde durch diesen Filter wahr-genommen und interpretiert und schien diese Geschichte zu bestätigen. Zum Beispiel waren revoltierende Jugendliche dieser Volksgruppe nur ein weiteres Zeichen dafür, dass alles den Bach runtergeht. Es führte zu einer ohnmächtigen Lähmung dieser Gemeinschaft. Sie ergaben sich in ihr Schicksal. Im Laufe der Jahre änderte sich die vorherrschende Geschichte. Vielleicht, weil Menschen einfach anfingen, eine andere Geschichte zu erzählen. Die Geschichte wurde zu: „Unsere Identität ist stark – wir werden sie nicht verlieren. Wir sind dabei uns einen Lebensraum und Lebenstil zu schaffen, der zu uns passt.“. Das führte dazu, dass alles was passierte – inklusive der revoltierenden Jugendlichen – als Zeichen des Aufbruchs interpretiert wurde und bestärkte die Gemeinschaft so weit, dass sie begannen ihre Landrechte einzufordern. You get the point, do you?

Therapeutisch

Therapeutisch heißt diese Methode der „Narrative Ansatz“. Es ist eine sehr kraftvolle Methode um Verhaltensänderung zu bewirken. Er beruht im Grunde darauf, Ausnahmen von der vorherrschenden Geschichte zu finden, in denen das Gewünschte schon Realität ist. Und mit Hilfe dieser Ausnahmen eine neue Geschichte zu erzählen.

Alles, was wir über jemand anderen erzählen, posten oder teilen, alles was wir zu gesellschaftlichen Themen erzählen, posten oder teilen, ist eine solche kraftvolle Geschichte, mit der wir Einfluss nehmen. Mein Vorschlag ist, dass wir diese Macht weise und verantwortungsbewusst nutzen.